Gewitter oder See im Sonnenlicht - ein Text zum Thema "Liebe (ohne dieses Wort zu verwenden)" von unserem Mitglied
Rundfunk
Silkes Körper vibrierte. Eine gewaltige Energie durchströmte sie vom
Bauch hoch bis in den Kopf und auch hinab, bis in jede Zehe. Am
Seeufer saß eine Gruppe junger Menschen im hohen Gras und sang zu
Gitarrenklängen. Ihre beste Freundin stand gerade bis zur Hüfte im
Wasser und schaute einem Fischschwarm hinterher. Am Rande der Gruppe
saß ein braun gebrannter Mann mit kurzen Haaren. Silkes Blick
verharrte einen Moment auf seinem linken Fuß. Der wippte im Takt der
Musik, in die Tom ganz versunken war. Noch ein Energieschwall schwoll
in ihr an und durchströmte ihren Rumpf, bis er den Kopf heiß werden
ließ. Langsam und bewusst rollten ihre Füße ab, als sie ihre Position
vor der riesigen Eiche verließ. Die hellgrünen Blätter raschelten
leise hinter ihr. Allmählich ging dieses Rascheln hinter den bunten
Stimmen unter. Silke setzte sich zu der Gruppe und begann das ihr
vertraute Lied von der Verwandlung von Bananen und Äpfeln in
menschliches Fleisch mitzusingen. Doch dann stand Tom auf.
Erst ging er langsam in Richtung des Weges, doch dann fing er an zu
rennen. Erst jetzt fiel sein Tunnelblick auf, der nur den schmalen
Korridor beinhaltete, der ihn zum Auto bringen würde. Tatsächlich
rannte Tom zum Auto und holte seinen mobilen Rechner aus dem
Handschuhfach. Er hatte es gleich gesagt, für eine solche
Zeitverschwendung hat er nichts übrig. Er wollte nicht wie ein Kind
blöd herumsitzen und lächerliche Lieder singen. Auf ihn warteten
hunderte von E-Mails, die er beantworten will. Einerseits will er
seine Geschäftspartner und seinen Vorgesetzten mit dauerhafter
Verfügbarkeit beeindrucken. Anderseits möchte er in den Vorstand des
Schachclubs gewählt werden und bei seinen
Open-Source-Programmierprojekten geht es auch darum, möglichst viel
Präsenz zu zeigen. Erst als seine Finger wild über die Tastatur rasen,
wird sein Gesicht etwas entspannter. Doch sein Körper ist weiterhin im
Fluchtmodus und von einer bunten Angstmischung durchwühlt. In der
Schachgruppe hat Günter tatsächlich in der Zwischenzeit einen Beitrag
gepostet, in dem er einen brauchbaren Plan für die gemeinsamen
Turnierbesuche im Ausland skizziert. Na warte, den wird er
übertreffen. Und die Firma, von denen er die Schrauben kauft, ist
morgen in der Stadt. Wenn er Glück hat, kann er sich heute mit dem
Vertreter zum Abendessen treffen. Das wird ihm mit seinem Charm einen
guten Rabatt bringen.
Stromausfall. Die Autobatterie explodierte und die plötzliche
Überspannung machte auch den Rechner unbrauchbar. Tom erinnerte sich
an ein Schweige-Retreat, an dem er vor zwei Jahren auf Empfehlung
seines Kollegen und Freundes teilgenommen hatte. Damals war er genau
so verbissen und verzweifelt wie jetzt. Er konnte es mit dem Verstand
noch lange nicht glauben, dass diese blöde noch immer vor sich hin
kokelnde Batterie ein Zeichen war, aber er hatte nun doch keine andere
Wahl, als den Moment zu akzeptieren. Die Alternative war, komplett
durchzudrehen und die hatte ihm noch nie gut getan. Nach dem er sich
versichert hatte, dass bei offener Motorhaube das restliche Auto kein
Feuer fangen würde, zog er sich zurück auf einen bemoosten Hügel
hinter dem Parkplatz, von dem aus er seine Gruppe sehen konnte.
Nicht wie eine dicke Spinne in einer aufgeräumten Wohnung sondern wie
ein Blitz bei hellem Himmel war der Aufbruch von Tom in Silkes Gemüt
gefahren. Noch vor einer Woche bei der Radtour hatte sie das Gefühl,
er freue sich so sehr wie sie auf den heutigen Ausflug. Mit dieser
kirchlichen Gruppe reisten sie schon seit fünf Jahren regelmäßig in
die Alpen und dies war der erste Ausflug der neuen Saison. Sie hatte
gehofft, ihm bei den alten Liedern heute endlich vorsichtig die Hand
auf den Oberkörper legen zu können, was sie schon seit mindestens drei
Jahren immer wieder verschiebt. Beim Singen ist er immer am
entspanntesten und von oben schien er so ausgeglichen, wie
erhofft. Eigentlich weiß er doch, dass er süchtig nach virtueller
Anerkennung ist, ihm dieses Hamsterrad aber nicht gut
tut. Offensichtlich ist es mit dieser Sucht nun richtig schlimm
geworden.
Toms Gedanken waren keine Wolken, die sich harmlos ergossen oder durch
Verdunsten verschwanden. Es dauerte vierzig Minuten, bis er bei
aufrechtem Oberkörper und ruhigem Atem den inneren Stierkampf für
halbwegs beendet erklären konnte. Vorsichtig öffnete er seine blauen
Augen, die nun stiller als der See waren. Ihr Blick schweifte langsam
über weiße und gelbe Blüten und das Schilf am Seeufer. Seine Ohren
hörten das Quaken der Frösche und das hohe, melodische Singen der
Vögel aus den Baumkronen und aus dem heiteren Himmel. Erst stellte er
fest, dass auch die singende Gruppe von hier aus in der Ferne zu sehen
war. Silke lag bewegungslos neben den anderen, die noch immer zu
singen schienen. Hatten sie sich nicht vor einer Woche noch gemeinsam
auf den heutigen Tag gefreut. Wie konnte er das nur vergessen.
Tom legte seine Hand sacht auf Silkes Oberarm. Sie lag noch immer am
gleichen Ort. Ihr von Gesicht drehte sich langsam nach
hinten. Verfeinte, matte Augen blickten in hell strahlende blaue. Tom
bat um Entschuldigung. Sie setzten sich dicht nebeneinander und
besprachen leise ihre Verzweiflung. Tom traute sich endlich von seinen
Ängsten und dem virtuellen Verfolgtsein zu erzählen. Silke traute
sich, ihm ihre Tränen und ihre zuvor empfundene Euphorie zu
beschreiben. Als der Gitarrenspieler das Lied von den Bienen
anstimmte, dass beide immer besonders gerne sangen, stimmten sie laut
in den Gesang mit ein. Dabei gelang Silke endlich die Kontaktaufnahme
mit dem sportlichen Oberkörper, die in einer innigen Umarmung
endete. Auf dem See glitt langsam ein Schwan vorbei und die Sonne
verschwand hinter den Bäumen.