Ich hatte nie eine Identität. Schon als Kind mochte ich das, was die anderen Kinder mochten, tat das, was die anderen Kinder taten. Ich orientierte mich sehr stark an meinem Vater. Ich hörte die Musik, die er hörte – auch wenn sie mir eigentlich nicht gefiel. Ich gab ein Interesse an Fußball vor.
Nein, das stimmt so nicht. Ich dachte selbst, ich hätte ein Interesse daran. Erst später bemerkte ich, dass dem nicht so ist. Worauf ich hinaus will – ich habe meine Interessen, meine Hobbies, meine Identität stets von anderen abhängig gemacht. Das ging so weit, dass ich mich häufig auch von den entsprechenden Personen abhängig machte
Bereits im frühen Teenageralter fingen dann die Probleme an. Ich suchte stets nach Bestätigung, nach Anerkennung, nach Liebe. Von wem war dabei egal. Ich passte mich weiterhin an mein Umfeld an, um bloß gemocht zu werden. Gesehen zu werden. Angenommen zu werden.
Meine eigenen Gedanken zogen mich in ein tiefes Loch. Ich sah keinen Sinn darin, zu leben. Und schließlich suchte ich mir Hilfe, begann eine Therapie. Kurz darauf wurde bei mir eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Und auf einmal hatte ich eine Identität.

Das mag sich vielleicht auf den ersten Eindruck etwas befremdlich anhören. Eine Diagnose, eine Krankheit wird als etwas Negatives wahrgenommen. Und das war es in meinem Fall auch, keine Frage. Doch es war nicht die Diagnose an sich. Sie hatte schließlich nichts an meinem Verhalten geändert – meine dysfunktionalen Gedanken und Muster hatten bloß einen Namen bekommen. Die Arbeit an eben diesen Gedanken und Mustern war die Herausforderung. Es war – und ist – ein langer, anstrengender Kampf. Tag ein, Tag aus. Ich musste Strategien entwickeln, um die ungesunden Verhaltensweisen durch gesunde zu ersetzen und dann diese Strategien auch nutzen lernen. Es kostete mich viel Zeit und Kraft, doch im Laufe der Jahre wurde es stets leichter, die Strategien anzuwenden. Einige von ihnen laufen mittlerweile automatisch, ohne, dass ich aktiv daran denken muss.

Heute bin ich an einem neuen Punkt angelangt. Hinter mir liegen etwa 10 Jahre Therapie, mehrere Klinikaufenthalte, weitere Diagnosen, Medikamente. Doch zum ersten Mal in meinem Leben kann ich sagen: ich bin am Leben. Ich fühle mich lebendig. Ich bin glücklich. Ich freue mich auf meine Zukunft. Ich habe Hoffnung. Gewiss gibt es nach wie vor auch schlechte Tage und ich muss weiterhin meine Strategien parat haben und sie auch anwenden. Doch der Hintergrund ist ein anderer. Ich weiß jetzt, wofür ich all die Kämpfe und Anstrengungen auf mich genommen habe. Und ich weiß, dass ich es schaffen kann, ein glückliches Leben zu führen.

„Was soll dann diese ganze Geschichte?“, fragst du dich jetzt vielleicht. Es gibt immer zwei Seiten der Medaille. Die eine Seite ist, dass ich es geschafft habe, mich selbst aus schwierigen Situationen zu befreien und das Leben nun anders wahrnehme. Doch die zweite Seite ist die Sache mit der Identität. Wer bin ich denn jetzt noch?

Meine Krankheit gibt mir paradoxerweise ein Gefühl von Sicherheit, von Vertrautheit. Auch wenn meine Gedanken und Gefühle mich an schlechten Tagen überrollen und zurück in dieses Loch werfen wollen, so sind sie dennoch etwas, was ich kenne. Sie halten sich an mir fest und ich habe Angst, sie abzustreifen. Ein gesundes Leben zu führen – aber ohne Identität.

Es fällt mir sehr schwer, mich von meinen Diagnosen und Problemen zu trennen. Sie geben mir ein Gefühl dafür, wer ich bin. Ein vermeintliches Gefühl. Wenn ich all das jetzt gehen lasse, wenn ich jetzt akzeptiere, dass ich gesund bin – wer bin ich dann?

Hallo @Mith !

Schön, dass du dich gleich getraut hast, uns einen deiner Texte zu zeigen!
Mir gefällt er schonmal sehr gut.
Und ich kann auch nachempfinden, wie dein "Ich" fühlt und warum.

Sprachlich habe ich auch nichts auszusetzen, und das ist wirklich gut! Ich bin da sehr kritisch normalerweise.

Also - nur weiter so! Das liest sich für mich, als würde es dir liegen, das Schreiben.

Ich weiß nicht, wie viele autobiografische Elemente dieser Text enthält, aber rein handwerklich gefällt er mir gut. Er hat genügend Lebendigkeit um in einem Rutsch gelesen zu werden. Das Interesse blieb bei mir stets vorhanden.
Natürlich habe ich mich immer wieder gefragt, ob du hier tatsächlich von dir schreibst oder zumindest in Teilen.
Eine fehlende Identität ist logischerweise problematisch und nicht selten wird diese mit Diagnosen aufgefüllt. In vielen Fällen werden aber eventuell nur die falschen Fragen gestellt.
Wenn ich es richtig interpetiere, wäre nach der Genesung ja wieder der Punkt Null erreicht. Wäre es dann nicht Zeit, sich eine Identität aufzubauen, in die so viele eigene Wünsche einfließen wie nur irgendwie möglich? Ich wünsche es der handelnden Figur ...

Vielen lieben Dank für die positive Rückmeldung :)

Mir gefällt der Text sehr gut.Er regt ebenfalls zum Denken an.Auch das Thema ist gut ausgewählt.
Weiter so.👍🍀